Expertenstandard Sturzprophylaxe: Aktualisierung

07.11.2022
Vanya Nicole Klauß

2. Aktualisierung veröffentlicht

Der Expertenstandard „Sturzprophylaxe in der Pflege, 2. Aktualisierung“ wurde inzwischen veröffentlicht
und kann beim DNQP bestellt werden.


Änderungen

Es bleibt dabei, was sich während der Konsultationsphase andeutete, nämlich, dass sich kaum etwas verändert. Die ausführliche Literaturrecherche und -analyse hat die Inhalte der 1. Aktualisierung größtenteils bestätigt. In der 2. Aktualisierung kommt es zu einer inhaltlichen Präzisierung der Empfehlungen, insbesondere im Bereich der Risikoerhebung und der Inhalte der Verfahrensanweisung, die die Einrichtung vorhalten muss.


Risikoerhebung

Die Einschätzung des Risikos erfolgt in einem zweistufigen Vorgehen im Rahmen der Informationssammlung bzw. Anamnese.

Screening

Die Durchführung erfolgt zu Beginn jedes Pflegeprozesses im Rahmen der Anamnese/Informationssammlung und wird wiederholt, wenn sich im Verlauf des Pflegeprozesses wesentliche Änderungen im Gesundheitszustand ergeben, was individuell von der pflegebedürftigen Person und ihrer Situation abhängt.

Es gibt vier Einschätzungskriterien für das Screening:

Sturz- und Frakturvorgeschichte
  • Stürze in den letzten 12 Monaten? Wie oft? Verletzungen?
  • Frakturen in den letzten 12 Monaten?
Sturzangst
  • Angst oder Sorge zu stürzen
Mobilitätsbeeinträchtigung (Kraft, Balance, Ausdauer, Beweglichkeit)
  • Unsicherheit beim Gehen/Stehen
  • Hilfsmittelnutzung (Gehstock, Unterarmgehstütze, Rollator)
Kognitive Beeinträchtigung
  • Orientierung – zeitlich, örtlich, situativ, persönlich

Wenn das Screening Hinweise auf ein möglicherweise erhöhtes Risiko ergeben hat, wird eine vertiefte Einschätzung durchgeführt.

Vertiefte Einschätzung

Die Durchführung erfolgt im Rahmen der Informationssammlung/Anamnese. Dabei werden die Risikofaktoren NICHT wie in einer Checkliste abgehakt, sondern individuell vorliegende Faktoren werden identifiziert und differenziert hinsichtlich Ausprägung, Schweregrad, Ursachen, Konsequenzen für das Sturzrisiko. Es wird ausdrücklich empfohlen keine separaten Assessments zu nutzen.

Wechselbeziehungen unter den Risikofaktoren sowie zwischen Faktoren anderer Erkrankungen und pflegerelevanter Gesundheitsprobleme (Mobilität, Ernährung, Kontinenz) und auch den Ressourcen und Fähigkeiten der Person werden berücksichtigt.

Personenbezogene Risikofaktoren
  • Sturz- und Frakturvorgeschichte
  • Sturzangst
  • Mobilitätsbeeinträchtigungen (Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit, Balance)
  • Beeinträchtigungen funktioneller Fähigkeiten, Gebrechen, Multimorbidität
  • Kognitive Beeinträchtigungen (Begutachtungsinstrument nutzen)
  • Depression (Verdacht auf depressive Verstimmung oder Depression – (fach)ärztliche Expertise)
  • Probleme mit der Urinausscheidung (Berücksichtigung des Kontinenzprofils)
  • Schmerzen
  • Diabetes mellitus (Diagnose oder auffällige Werte)
  • Ernährung (Risiko Mangelernährung, kalziumarme Diät, extrem hoher/niedriger BMI)
  • Sehbeeinträchtigung (Zugänglichkeit, Tragbarkeit der Brille, Art der Brille, Nutzung, sichere Bewegung mit Brille im Raum, letzte Untersuchung Sehfunktion)
  • Orthostatische Hypotonie (Schwindel – insbesondere bei Positionswechseln)
Medikationsbezogene Risikofaktoren
  • Überprüfung von Indikation und Dosis unter Einbezug des verordnenden Arztes
  • Psychotrope Medikamente (Antidepressiva, Neuroleptika, Sedativa/Hypnotika)
  • Androgenrezeptor-Inhibitatoren (Prostata-Krebs)
  • Polypharmazie (regelmäßige Einnahme von >4 Medikamenten)
Umweltbezogene Risikofaktoren
  • Freiheitsentziehende Maßnahmen – Prüfung der Indikation und Einleitung von Maßnahmen zur Reduktion/Beendigung der FEM
  • Gefahren in der Umgebung (z. B. Hindernisse auf dem Boden, geringe Beleuchtung, Stolperfallen, zu schwache Kontraste)
  • Inadäquates Schuhwerk (instabil, zu eng, zu weit)

 Es wird empfohlen das Sturzrisiko in folgenden Situationen neu einzuschätzen:

  • Bei Beginn eines Pflegeprozesses und bei Rückverlegung von einem Setting/einer Institution in ein anderes/eine andere (bzw. von einer Station auf eine andere)
  • Nach einem Sturz
  • Veränderungen der Pflegesituation/des Gesundheitszustandes (vor allem Veränderung in den Screening-Risikofaktoren)
  • Regelmäßige Einschätzung nach individuell festgelegten Zeitabständen (“je akuter das Setting, desto häufiger ist eine erneute Einschätzung notwendig”)
  • In Langzeitpflegesettings bei ≥65-jährigen Personen mindestens einmal jährlich

Interventionen

Die Pflegefachkraft hat die Kompetenz dem individuellen Sturzrisiko der Person entsprechend geeignete Interventionen auszuwählen.

Einzelinterventionen

  • Eingebettete Einzelinterventionen in pflegerische Alltagshandlungen z. B. Unterstützung zielgerichteter Bewegungsabläufe, bewegungs- und balancefördernde Maßnahmen bspw. Bei der Körperpflege und beim Ankleiden oder bei der Unterstützung beim Aufstehen und Hinsetzen, Eliminieren von Stolperfallen, angemessener Einsatz von Hilfsmitteln für eine sichere Mobilität, Sorge für angemessene Beleuchtung
  • Körperliches oder motorisches Training, Teilnahme an Bewegungsgruppen
  • Anpassung des (Wohn)Umfeldes (Lichtverhältnisse, Sitzmöbel, Bett, Toilette, Dusche, Badewanne, Fußboden, Haltegriffe, rutschfeste Materialien im Nassbereich
  • Anpassung der Medikation – Beobachtung und Dokumentation der Wirkungen und Nebenwirkungen verordneter Medikamente und initiieren von Handlungsschritten in Kooperation mit den behandelnden Ärzten
  • Umgang mit Beeinträchtigung der Sehfunktion – pflegefachliche Beobachtung, Kommunikation mit dem Arzt, angemessene Nutzung von Sehhilfen
  • Niedrigbetten, Identifikationsarmbänder, Bettalarmsysteme (ggf. rechtliche, ethische und fachliche Genehmigung erforderlich – FEM)
  • Hüftprotektoren, Protektoren zur Minimierung von Sturzfolgen
  • Podiatrische (podologische) Interventionen – Anpassung des Schuhwerks, Fuß- und Sprunggelenksübungen
  • Technologie-basierte Interventionen – Tele-health, Exergames, kognitive Spiele, sozialisiertes Training, Smart-Home-Systeme, nicht konventionelles Gleichgewichts-Training
  • Information, Schulung und Beratung der Pflegekunden und deren Angehörige - Aufklärungsarbeit

Multimodale Interventionsprogramme

Mehrere Einzelinterventionen in verschiedenen Kombinationen

Definition Sturz

Ein Sturz ist ein multifaktorielles Geschehen, d.h., dass eine Kombination mehrerer Risikofaktoren zum Sturz führt. Per Definition ist ein Sturz ein Ereignis, bei dem der Betroffene unbeabsichtigt auf dem Boden oder auf einer anderen tieferen Ebene aufkommt (siehe Expertenstandard „Sturzprophylaxe in der Pflege“ S.20). Hiermit sind auch Stürze gemeint, in deren Folge die Betroffenen den Boden oder die tiefere Ebene nicht mit dem gesamten Körper berühren, sondern dort z. B. Sitzen oder Hocken.

Häufig kann im Beisein von Pflegefachkräften ein Sturz so weit abgefangen werden, dass es nicht zu einer Berührung des Körpers mit dem Boden kommt. Diese „Beinahestürze“ geben wichtige Hinweise auf Risikofaktoren, werden aber nicht als Stürze gewertet (kein Sturzprotokoll). Im pflegerischen Alltag geben sie jedoch Auskünfte für die Risikoeinschätzung und werden dort berücksichtigt.


Fazit

In jedem Fall sind eine Revision der internen Verfahrensregelungen notwendig und eine Fortbildung der Mitarbeitenden bzw. die Arbeit in einem Qualitätszirkel sinnvoll.

Pflege-Besser GbR

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